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CHRYSANTHEMEN VOM KÜNFTIGEN PEINIGER      (17.03.2011.)

Jadranka Cigelj überlebte "mit schmerzhaft geschärften Sinnen" ein Folterlager der bosnischen Serben

Wenn die großen Verbrechen begangen sind, bleiben Zahlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg legte die Sowjetunion fest, dass durch die deutsche Belagerung Leningrads 632 253 Zivilisten zu Tode gekommen seien. Wissenschaftler haben diese von Moskau aus politischen Gründen stark untertriebene Zahl, die auch bei den Nürnberger Prozessen verwendet wurde, später korrigiert. Heute gilt es als wahrscheinlich, dass bis zu 1,3 Millionen Zivilisten innerhalb des Belagerungsrings umkamen. Doch weder die eine noch die andere Zahl können uns Maßgebliches über den Massenmord an den Leningradern sagen. Eine Stimme bekam das Verbrechen erst Jahre und Jahrzehnte später: Durch Lidia Ginsburgs Aufzeichnungen eines Blockademenschen, dank Dmitri Lichatschows Lebenserinnerungen an Hunger und Terror oder mit Daniil Granins gesammelten Erlebnissen von Blockadeüberlebenden.

Buchlesung mit Authorin persönlich

-  Dienstag,      05.04.2011 - 19.00 , Mediathek Brig - siehe Flyer

Donnerstag, 07.04.2011 - 20.00 , Stadtbibliothek Baden - siehe Flyer

In Bosnien-Hercegovina, wo von 1992 bis 1995 der größte Krieg tobte, den Europa nach 1945 erlebte, war es ähnlich: Am Anfang standen falsche Zahlen. Lange machte die von (muslimischen) Bosniaken in die Welt gesetzte - und dann von ausländischen Journalisten in gutem Glauben verbreitete - Zahl von 250 000 Todesopfern des bosnischen Krieges die Runde. Wissenschaftler haben diese aus politischen Gründen übertriebene Zahl später korrigiert. Laut neuesten Forschungen sind im Bosnien-Krieg etwa 100 000 Soldaten und Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben. Aber auch diese Zahlen sagen uns fast nichts über den Krieg in dem Balkanstaat. Erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach dem unvollkommenen Friedensschluss von Dayton, bekommt das Morden in Bosnien Stimmen. Durch die Regisseurin Jasmila Zbanic etwa, deren Film über das Leben einer im Krieg vergewaltigten Bosniakin und ihrer Tochter im vergangenen Jahr bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Oder durch das nun vorliegende Buch von Jadranka Cigelj, das ebenfalls geeignet ist, dem Zahlenwerk der Kriegsstatistik durch die Schilderung von Einzelschicksalen Substanz zu verleihen.

In "Appartement 102 Omarska" berichtet Frau Cigelj von ihrem Überleben in einem von Serben betriebenen Folterlager, in dem etwa 3000 Männer gequält und getötet wurden. Außer den Männern wurden auch 37 Frauen in dem ehemaligen Bergwerk Omarska in der Nähe der bosnischen Stadt Prijedor festgehalten, von denen die meisten wie die Chronistin immerhin mit dem Leben davonkamen - oder mit dem, was ihnen davon noch blieb nach der physischen und vor allem psychischen Tortur. Einige ihrer Peiniger waren Frau Cigelj persönlich bekannt: in friedlichen Zeiten waren es Kollegen, Nachbarn oder Mitpassagiere in öffentlichen Verkehrsmitteln. Allesamt scheinbar wohlerzogene Leute, die in anderen Zeiten im lokalen Chor den Bass sangen, Magisterarbeiten in der Schweiz schrieben und zu Besuch Chrysanthemen mitbrachten. Durch den Krieg und den Zufall ihrer Geburt als Serben wurden sie zu Herren über Leben und Tod ihrer früheren Nachbarn, die zufällig keine Serben waren. Bei einigen brach ein Hang zum Sadismus hervor. "Mit schmerzhaft geschärften Sinnen" überlebte Frau Cigelj in dieser Welt, und auf diese Weise hat sie sich Jahre später auch daran erinnert, um es festzuhalten. Dies ist ein Sachbuch, aber die Sprache ist von literarischer Qualität. Mit einer stellenweise nur schwer zu ertragenden Eindringlichkeit beschreibt die Autorin den Verlauf ihres Martyriums in Nordwestbosnien, das für sie 55 Tage dauerte und ein Leben dauern wird. Sie schildert die psychologischen Überlebensstrategien, denen die gefangenen Frauen folgten, um nicht wahnsinnig zu werden. Dazu gehörte die eingebildete Bejahung des durch Folterungen erlittenen Schmerzes: "Der Schmerz, der bis dahin jede meiner Bewegungen blockierte, begann mich zu trösten. Er weitete sich aus und gab mir eine merkwürdige Sicherheit. Er war bekannt. Er gehörte zu mir und ich hatte ihn letzte Nacht kennengelernt. Die Uniform war das Unbekannte." Sie erinnert sich an das naive Hoffen der Verzweifelten auf ein Wunder: "Ich begriff nicht, dass es nicht die Zeit für Wunder war. Es gab nur die Zeit der Serben."

Zur Zeit der Serben wurden die Jahre bis 1995 auch deshalb, weil das Ausland nicht oder nur zum Schein eingriff in diesen Krieg, der nicht nur, aber ganz wesentlich ein Vertreibungsfeldzug Belgrads und seiner zum Teil sehr eigenständig agierenden bosnisch-serbischen Handlanger war. Vollends gespenstisch werden die Beschreibungen von Frau Cigelj, wenn man sich dazu die Bosnien-Debatten in Erinnerung ruft, die just zu jener Zeit in den Parlamenten der Welt stattfanden, als Menschen in Omarska gefoltert und getötet wurden. Während sich vor allem im Osten Bosniens, an der Drina, eine Stadt nach der anderen in ein Schlachthaus für Muslime verwandelte, wurde in den europäischen Hauptstädten, in London vor allem, nicht selten die Meinung geäußert, dass "dort unten" irgendwie alle gleichermaßen schuld seien und "die Kriegsparteien" endlich zur Vernunft kommen müssten.

In Deutschland waren es gerade linke Parteien und Kräfte, die sich mit einem Hinweis auf die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangenen oder geförderten Verbrechen gegen ein Eingreifen der Bundeswehr wandten. Der Sarkasmus dieser Haltung ist unübertrefflich, und so muss sich dem deutschen Leser denn auch bei dieser Lektüre wieder einmal der Gedanke aufdrängen, wie wohlfeil die politisch korrekte Nie-wieder-Litanei als inoffizielles Leitmotiv der Bundesrepublik gerade für jene war, die sie am lautesten vorbeteten. Es wird, auch das ist eine trübe Lehre aus Jadranka Cigeljs Buch, immer wieder ein "wieder" geben, und man kann realistischerweise wohl nur die Hoffnung hegen, wenigstens in Europa ließen sich die Abstände zwischen solchen Rückfällen möglichst groß halten. Jadranka Cigeljs Buch ist die verstörende Aufzeichnung eines solchen Rückfalls, der sich ereignete in Zeiten, als die Welt angeblich schon ein globales Dorf war.

MICHAEL MARTENS

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.2007

Jadranka Cigelj: Appartement 102 Omarska. Ein Zeitzeugnis.

Herausgegeben von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Deutsche Sektion e. V. Diametric Verlag, Würzburg 2007. 234 S.

 

 

Leseprobe

 

"Und, Frauen.!"

Er stand an der Tür. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen, die ein gepflegter Schnurrbart umsäumte. Sein Äußeres hob die Selbstsicherheit hervor, die dieser Mann ausstrahlte - die funkelnden dunkelbraunen Augen, das sorgfältig gekämmte glänzende dichte Haar, das mit Öl oder Haargel eingeschmiert war.

Das Erscheinen des Mannes unterbrach unsere leise Unterhaltung. Schweres steinernes Atmen füllte den Raum mit stummer Erwartung.

Die Luft war bleiern vor Schweigen und Unbehagen, das mich wie eine Flutwelle überkam.
Langsam glitt sein Blick über unsere Gesichter, die wir mit gebeugten Köpfen zu verstecken versuchten.

Meine Augen irrten herum in der Hoffnung Unterstützung zu finden. Mein Hals pochte. Mich beschlich eine unangenehme Vorahnung, die Panik hervorrief. Ich versuchte meine verwirrten Gedanken auf der Suche nach der Bedeutung dieses Besuchs zu ordnen. Aber die Panik, die so unerwartet kam wie die Flut, packte mein gesamtes Wesen. Die Fäuste, die ich vor Angst immer fester zusammendrückte, füllten sich mit klebrigem Schweiß. Heimlich suchte ich den Blick einer anderen Frau. Alle Blicke waren auf den Boden gerichtet, die Lippen fest zusammengedrückt und stumm, als ob unser Schweigen, das unendliche Minuten füllte, den unerwarteten Besuch hätte entfernen können.

"Du! Du, da hinten. Mit den großen Augen... Du bist neu?" Es waren nur Wörter. Wörter, die eine Drohung in sich trugen. Keine von uns antwortete. Er sprach auch keine bestimmte von uns an. Vorsichtig blickte ich in die Gesichter von drei Frauen, die an jenem Tag gebracht wurden. Ich hielt den Atem an. Sie starrten mich an. Mein Hals zog sich zusammen, als ich merkte, dass sich der Mann an mich wandte. Ich konnte kein Wort hervorbringen. Anstatt zu antworten, nickte ich fast unmerklich. Kleine Schweißtropfen sammelten sich an meinen Lippen und tropften auf das Kinn.
Ein unsinniger Gedanke schoss durch meinen Kopf und ich sagte, fast laut: "Eigentlich schwitze ich nie."

"Hab keine Angst. komm her!"
Es war keine Bitte. Er bat um nichts. Es war ein abgeschwächter Befehl. Ich bewegte meine bleischweren Beine und näherte mich ihm.

"Du hast Augen wie meine Ivanka. Ja. Genau wie sie. Das habe ich sofort bemerkt."

Ich unterdrückte den Wunsch zu fliehen. Die Worte kamen eines nach dem anderen, als ob er sie sich selbst aufsagen würde. Langsam berührte er mit seinem Daumen und dem kleinen Finger mein Kinn und mit zärtlichen Berührungen wischte er die kleinen Schweißtropfen, die sich über meinen Lippen ansammelten, weg.
Ich traute mich nicht mich auch nur einen Millimeter zu bewegen, trotz des gutwilligen Blicks, mit dem er mich anschaute. Mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung unterdrückte ich die aufkommende Panik, die sich in mir ausbreitete und mich lähmte. In diesem Raum gab es nur meine Angst und den Verursacher meiner Angst. Alles Andere war weg und außerhalb meiner Reichweite. Langsam stieg Kälte meinen Rücken hinauf und rief eine Gefühllosigkeit im ganzen Körper hervor.

"Ich möchte mit dir alleine reden!"
Das war ein Befehl, begleitet mit einem leichten Drücken meines Kinns. Wieder suchte ich in den Augen der anderen Frauen Unterstützung. Aber ihre Augen blickten ins Leere, als ob sie so ihr eigenes Schicksal ändern könnten.
Mein Blick glitt auf den Tisch, auf dem Reste unseres Abendessens lagen. Es war mein erster Abend an diesem Ort.

Seine Hand glitt von meinem Gesicht auf den Oberarm. Langsam schob er mich in Richtung Tür. Das Heraustreten aus dem hellen Raum in den dunklen Flur war ein weiterer Schock. Vor lauter Angst konnte ich meine Beine kaum bewegen, während er mich mit einer merkwürdigen und bestimmten Geduld in die Dunkelheit schob. Ich hatte das Gefühl sehr lange gegangen zu sein, bevor ich wieder Licht sah; wahrscheinlich war es der Mondschein, oder ein anderes Licht außerhalb dieses Raumes. Ich spürte, wie er meinen Arm losließ und mich am Rücken fest nach vorne drückte, irgendwohin nach vorne.

"Komm!" Ein leiser Befehl. Er schob mich nach vorne. Es gab keine Zärtlichkeit in seinen Berührungen mehr, auch nicht in der Stimme. Ich ahnte die unausgesprochene Drohung.

Ich versuchte meine Augen dem schwachen Licht anzupassen, das einige Büromöbel erleuchtete und den Raum mit Angst erregenden Schatten füllte. "Draußen werden bestimmt Reflektoren sein." Ich versuchte meine Gedanken auf etwas Bestimmtes zu richten, um meinen heftigen Wunsch zu schreien zu dämpfen. Intuitiv spürte ich, dass keine Angst gezeigt werden darf und dass schon gar nicht geschrieen werden darf. Ich spürte, wie er mich wieder fest am Oberarm griff und mich nach unten zog. Ich begriff. Er wollte, dass ich mich setze. Steif blieb ich stehen, bis er mir mit schweren Händen meine Schultern nach unten drückte und mich zwang dem unausgesprochenen Befehl zu gehorchen. Ich spürte die Berührung seiner Beine. Er saß auf einem Stuhl. Mein schwacher Abwehrversuch wurde mit einem festen Druck gestoppt und im nächsten Augenblick war ich in seinem Schoß.

"Du bist also die Kroatin, die heute gebracht wurde! Ich hörte es in der Kommandantur. Sie reden von dir, als ob du sehr gefährlich seiest. So dachte ich mir, die sollte ich mir mal ansehen. Vielleicht bist du ja nicht so übel. Und dann! Verdammt. Du siehst genauso aus wie meine Ivanka!"
"Welche Ivanka?", flüsterte ich und richtete dabei meinen Kopf auf.
Diese unüberlegte Frage machte mir Angst, aber die Antwort kam mit derselben bestimmten ruhigen Stimme.
"Ivanka? Das ist meine Schöne aus Koprivnica. Wir waren eine Zeit lang zusammen. Früher. Ich war jung und neugierig. Ich liebte es in ganz Jugoslawien herumzureisen. Und so bin ich auf sie gestoßen." Seine Hand glitt im Rhythmus seiner Worte meinen Rücken entlang. Ich unterdrückte meine Angst, brachte kein Wort mehr hervor und wünschte nur, er würde weiter reden. Es nahm kein Ende ...
"Ihr ähnelt euch sehr. Sie war etwas kleiner. Du bist ziemlich groß. Aber der gleiche Typ. Große Augen, und auch das Haar. so wie deines, unruhig, lockig. Weißt du, ich war verliebt in sie."
Die letzten Worte flüsterte er zärtlich, was in mir einen Funken von Hoffnung hervorrief.
"Was war mit deiner Ivanka?", fragte ich, um seine Erzählung in Gang zu halten und so seine Hand davon abzuhalten, meinen Körper immer stärker zu quetschen.
"Ach! Die Ferne, die Jugend, mein Herumirren. Sie wollte nicht auf mich warten."
Gott sei Dank erwähnte er nicht die Nationalität oder etwas Ähnliches. Ich spürte eine gewisse Erleichterung.
Der Druck seiner Hände ließ etwas nach. Ich hoffte, er würde loslassen. Einige Augenblicke lang war es still. Sogar die grauenvollen Schatten waren verschwunden. Von draußen waren durch den Regen leise Stimmen der Wachposten zu hören. Die bedrohliche Stille wurde von einem schmerzhaften Stöhnen eines Mannes durchbrochen.
"Ich habe deine Angst bemerkt!"
...

"Da sind sie", mit leisem und trotzdem lauten Flüstern unterbrach jemand meine Agonie. Das merkwürdig klappernde Geräusch schwerer Schritte - es waren Stiefel oder schwere Schuhe - zerriss meine Ohren. Ich zwang mich, in die Richtung zu blicken, aus der die Geräusche kamen, und beobachtete das Unerahnte.

Sie traten durch das niedrige Fenster ein. Diese demonstrierte Macht brauchte offensichtlich keine Tür. Schwere Soldatenstiefel verschwammen mit der Farbe der Kampfuniformen. Etwas höher, wo Männerschenkel sein sollten, hingen wie Trauben kleine Granaten, die ihre Macht hervorhoben.
Durch das Fenster traten insgesamt zehn Männer ein, einer nach dem anderen. Alle waren gleich angezogen und mit den gleichen Waffen beladen. Nur einer stach hervor, in einer schwarzen Lederjacke, vielleicht war sie auch dunkelbraun, und Jeans. Er war der kleinste und der dickste. Durch das Fenster trat meine Angst ein. Meine bösen Vorahnungen, ihre Macht.
Erst jetzt kam unsere Hilflosigkeit so richtig zum Vorschein, und das begriff ich, während ich die hochgekrempelten Ärmel der Soldatenhemden und die aufgeknöpften Kragen betrachtete, was diesen Gewalttätern ein ziemlich unordentliches Aussehen verlieh.

Alle hatten sie auf der rechten Hüfte eine sichtbare Pistolenhülle mit einem langen Militärmesser oder einem Bajonett. Sonnenstrahlen schienen auf die Spitze dieser scharfen Waffen und ließen sie noch gefährlicher erscheinen.
Über ihren Schultern hingen Munitionsgürtel für die kurzen Automatengewehre, die sie drohend in ihren Händen hielten.
Im Gang, mit erhobenem Kopf, blickten sie vor sich, demonstrierten stumm ihre Macht und ignorierten unsere ärmliche, in der Ecke zusammengedrückte Gruppe. Ich erkannte ihre Gesichter. Erinnerte mich an ihre Namen. An ihre Berufe. An das, was diese Menschen vor dem Krieg waren. Unter dem Druck der aufgestauten Angst konnte ich mich nur an zwei Namen erinnern. Das waren Dragan Radakovic, Grundschullehrer, Amateurschauspieler. Ein Marxist, den die Kommunistische Partei zum Direktor des Nationalparks Kozara ernannt hatte. Er sang im lokalen Chor "Dr. Mladen Stojanovic" den Bass. Als ob er sich und seine Gedanken vor unserer ärmlichen Gefängnisgruppe verstecken wollte, trug er eine Brille mit verdunkelten Gläsern.

Ich versuchte den Blick des anderen ,Mächtigen' einzufangen, der sich hinter den mir so bekannten dicken Brillengläsern zu verstecken versuchte. Es war der Strafvollzugsrichter, Živko Dragosavljevic. Wie eine Ertrinkende, die sich an einen Strohhalm klammerte, erhoffte ich mir Hilfe. Während eines Strafverfahrens wegen kleinerer Diebstähle hatten wir so oft Spaß zusammen. Ein Mal als ich als Vertreterin meiner Firma gegen einen Fischdieb vorging. So oft hatten wir über unsere kleinen Gehälter geredet bzw. über die Differenz. Oft hatte er mir im Spaß angeboten mit mir zu tauschen, weil mein Gehalt höher war. Er war auch privat bei mir zu Hause auf Besuch mit seiner Gattin und damals brachten sie Chrysanthemen mit. Mein Körper versteifte sich, als ich meine Gedanken an die Gründe, warum er mir helfen könnte, unterbrach. Verdammte Chrysanthemen. Werden sie bei uns nicht zum Friedhof an die Gräber gebracht?

Er ging jetzt an Nusreta, Jasminka und an mir vorbei, als ob er uns noch nie zuvor gesehen hätte. Sein Gesichtsausdruck zeugte von einer gewissen Peinlichkeit, gemischt mit aufgesetzter Härte und fest zusammengepressten Lippen. Oder habe ich mir das alles eingebildet?
"Hallo Živko!", schoss es wie aus der Kanone aus mir heraus.
Worte, die noch vor einigen Tagen Zeichen von Höflichkeit waren, des Kennens, des Normalen, klangen in diesem Raum wie ein Hilferuf. Alle blickten wir zu Nusreta. Nach der schnell ausgesprochenen Begrüßung blickten ihre Augen ängstlich fragend um sich, mit der furchtbaren Erkenntnis, einen Fehler gemacht zu haben. Der Mund, der ein zwanghaftes Lächeln formte, nahm diesem "Mächtigen" gegenüber schnell eine angeekelte Form an. Živko beschleunigte seinen Schritt, als ob er so schnell wir möglich aus unserem Blickfeld verschwinden wollte. Bevor er hinter der Tür verschwand, sahen wir, wie sein ganzes Gesicht rot anlief.

Als er durch die Glastür verschwand, lebte unsere Ecke auf.

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