An derselben Stelle hatten am 15. April 2011 Tausende
mitverfolgt, wie Richter Alphons Orie das erste Urteil
des Kriegsverbrechertribunals der Vereinten Nationen für
das ehemalige Jugoslawien gegen die kroatischen Generäle
Ante Gotovina und Mladen Markač verkündete. Damals wurde
Gotovina zu 24 Jahren und Markač zu 18 Jahren Haft
verurteilt, was die Veteranen zu Buhrufen animierte.
Dieses Mal hofften die meisten auf eine Strafminderung,
aber auf einen Freispruch wagten sie nicht zu hoffen.
Tausende bejubelten den Freispruch
Doch je länger Richter Meron sprach, desto mehr wuchs die
Erregung. Als er auf die Beschießung der Städte Knin, Benkovac, Obrovac und
Gračac während der "Operation Sturm" im August 1995 zu sprechen kam und die
Auffassung des Ersturteils zurückwies, sie sei unrechtmäßig erfolgt, gab es den
ersten Applaus. Am Ende jubelten Tausende, als Meron den Freispruch verkündete.
Betagte Kriegsveteranen fielen einander mit Tränen in den Augen in die Arme.
Die Nationalhymne wurde angestimmt,
Sektkorken knallten, da und dort wurde getanzt. Es
war, als hätte plötzlich ein Albtraum geendet. Die
Kroaten maßen dem Haager Urteil eine historische
Botschaft zu: Es gehe nicht nur um Gotovina und
Markač, es gehe um die Ehre ihrer Nation, um die
Bewertung ihres Verteidigungskrieges gegen die
großserbische Aggression und um ihren Platz in der
Geschichte.
Das Berufungsgericht entkräftete das
Urteil erster Instanz in allen wesentlichen Punkten.
Im Mittelpunkt des Prozesses gegen die beiden Generäle
stand die Beschießung der Serbenhochburg Knin und der
drei anderen Städte durch die kroatische Artillerie.
Die erste Instanz hatte ihr Urteil vorwiegend auf eine
Analyse der Einschläge der Geschosse gestützt. Dabei
wurde jeder Einschlag, der mehr als 200 Meter entfernt
von einem militärischen Ziel erfolgte, als das
Ergebnis eines gezielten Schusses gewertet.
Feuer auch auf bewegliche Ziele
Dieser "200-Meter-Standard", wie ihn Richter Meron nannte, war
nach Überzeugung des Berufungsgerichts willkürlich gewählt worden, ohne
zuverlässige Angaben über die unterschiedlichen lokalen Bedingungen in den vier
Städten, wie Windstärke und Lufttemperatur, zur Verfügung zu haben. Im Falle
Knin müsse zudem die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, dass die Artillerie
das Feuer auch auf bewegliche Ziele gerichtet habe.
Die Frage der Beschießung der Städte
ist deswegen zentral, weil die Anklage ihre
Beweisführung über die Existenz eines kroatischen
Generalplans zur "ethnischen Säuberung" der
zurückeroberten Gebiete hauptsächlich darauf gestützt
hatte. Nach der Ansicht der Anklage, die vom
Erstgericht übernommen wurde, habe es ein "gemeinsames
kriminelles Unternehmen" (JCE - joint criminal
enterprise) gegeben, an dem die damalige politische
und militärische Führung Kroatiens einschließlich der
Generäle Gotovina und Markač beteiligt gewesen sei.
Dieses JCE habe die Absicht verfolgt,
im Zuge der Befreiung der sogenannten Krajina die
serbische Zivilbevölkerung so zu terrorisieren, dass
sie ihre Heimat verlassen und nach Serbien flüchten
würde. Die Beschießung ziviler Wohngegenden in den
Städten der Krajina sei dabei entscheidend gewesen.
"Weit verbreitete, systematische
Angriffe"
Das Urteil von April 2011 hatte die Anklageschrift in diesem
politisch brisantesten Punkt bestätigt: "Bestimmte Mitglieder der kroatischen
politischen und militärischen Führung", sagte Richter Orie damals, hätten
spätestens im Juli 1995 ein JCE in die Wege geleitet, um die Serben der Krajina
"durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt" auf Dauer zu entfernen.
An erster Stelle nannte er den
Staatsgründer und ersten Präsidenten Franjo Tudjman,
gefolgt vom damaligen Verteidigungsminister Gojko
Šušak sowie ranghohen kroatischen Offizieren. Während
der "Operation Sturm" im Sommer und Herbst 1995 hätten
die kroatischen Streitkräfte und Spezialeinheiten der
Polizei zahlreiche Verbrechen begangen, darunter Mord,
grausame Behandlung von Zivilisten, mutwillige
Zerstörung von Eigentum, Plünderungen und
Deportationen.
Aus der relativ kurzen Zeit, in der
sich in der Region zahlreiche Verbrechen ereignet
hätten, zog das Erstgericht die Schlussfolgerung, dass
es sich um einen "weit verbreiteten und systematischen
Angriff gegen die serbische Zivilbevölkerung"
gehandelt habe, an dem sich Gotovina und Markač
beteiligt hätten.
Die Zurückweisung der Ansicht, die
kroatische Artillerie habe nichtmilitärische Ziele in
Knin und den anderen Städten beschossen, spricht also
nicht nur die beiden Generäle frei, sondern entlastet
auch den kroatischen Staat, weil das Tribunal die
"Operation Sturm" zur Befreiung der von serbischen
Rebellen besetzten Gebiete als solche nicht mehr mit
einem Verbrechen gleichsetzt.
Dies erklärt
die Erleichterung, mit der die kroatischen Politiker
quer durch die Parteien das Urteil aufnahmen. Über all
die Jahre stand Kroatien besonders in Großbritannien
und in den Niederlanden unter dem Generalverdacht, die
nationalistischen Schlacken der Tudjman-Ära nicht
restlos abgelegt zu haben. Diesen Verdacht ist es
jetzt los, was angesichts der zunehmenden Kritik an
der EU-Beitrittsreife Kroatiens einen nicht zu
unterschätzenden Erfolg darstellt.
Das Haager
Tribunal bestreitet in seinem Urteil nicht, dass es im
Zuge der Befreiung der von serbischen Rebellen
besetzten Gebiete zu Verbrechen gekommen ist, ordnet
sie jedoch nicht einem Generalplan zu. Die der
Verurteilung erster Instanz zugrundeliegende
Behauptung, Gotovina und Markač hätten diese
Gewalttaten nicht verhindert, sondern billigend in
Kauf genommen und nicht geahndet, wies das
Berufungsgericht als nicht bewiesen zurück. Offen ist,
ob die Urheber dieser Verbrechen je zur Verantwortung
gezogen werden.
Von
Karl-Peter Schwarz
www.faz.net / 16.11.2012
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