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12 Jahre danach - Erinnerung an Vukovar

von Urs Hofmann, Nationalrat, Aarau

Zur Vernissage der Fotoausstellung Vukovar" vom 10. Januar 2003 von Werner Rolli und Remigius Bütler in der Stadtbibliothek Aarau.

In der Familienbibel meiner Grossmutter fand ich nach deren Tod vor über dreissig Jahren nebst dem Bildnis von Papst Johannes XXIII das Extrablatt der Basler Nachrichten vom 23. Oktober 1921, das von der Flucht des Kaisers Karl aus seinem Schweizer Exil und der Übernahme der Macht in Budapest berichtete. Die Kriegsangst und die Destabilisierung der Lage in Europa nur drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren wohl die Gründe, die meine Grossmutter zum sorgfältigen Aufbewahren gerade dieser Zeitung bewogen hatten, auch wenn es aus heutiger Sicht wohl in diesen Jahren wichtigere Ereignisse gegeben hätte. Da Altes neugierig macht, blätterte ich das brüchige vergilbte Papier weiter durch und stiess auf eine Annonce, die ich mit Verwunderung las und die mich bewog, meinen Fund bis heute aufzubewahren.

Ausgeschrieben waren von der Basler Zeitung als Reklamefahrten zum bis auf weiteres ermässigten Preis von Fr. 117.- Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto, alles inbegriffen: "Benützen Sie das schöne Wetter zu einer interessanten Herbsttour", stand da geschrieben. Angeboten wurden die Schlachtfeldergebiete von 1870/71 von Gravelotte, das Ossuaire (Beinhaus) von Thiaumont, ein feines Mittagessen mit Zeit zur Besichtigung des "zerschossenen Verdun" und schliesslich am Nachmittag, sozusagen als Höhepunkt, die Fahrt durch "das schrecklich verwüstete Gebiet von Haudiaumont". Keine einmalige Aktion etwa. Nein infolge grossen Andrangs wurden die Fahrten "jeden Tag" ausgeführt. Anerkennungs- und Dankesschreiben von früheren Reiseteilnehmern lägen in grosser Zahl im Bureau bereit, pries das Blatt sein Angebot an.

Da wohl nicht mehr opportun, werden solche Ausflüge heute nicht mehr ausgeschrieben. Kein Zweifel jedoch, die Nachfrage bestünde nach wie vor. Wenn Leute ihre Hobby's nennen, kommen "Kriegsgeschichte", "Weltkrieg", "Grosse Schlachten" oder Ähnliches mit grosser Regelmässigkeit vor.

Krieg und Schlachten faszinieren viele Menschen. Dabei gibt es viele Orte, die mit einer Aha-Erinnerung an frühere Geschichtsstunden zur Kenntnis genommen werden, verbunden mit geschichtlichen Ereignissen und den Namen ihrer Helden. Grosse Emotionen oder Gedanken an Leiden und Tod sind damit gemeinhin nicht verbunden: Bibracte und Cäsar, Cannae und Hannibal, Morgarten, Sempach und Winkelried, Murten, Marignano, Trafalgar und Nelson, Leipzig und Napoleon, Pearl Harbour, Dien Bien Phu. Sogar Verdun war trotz der gegen 1 Million Toter offenbar ein gutes Mittagessen "im besten Hotel der Stadt" wert. Und auch viele neuere Schlachten sind Geschichte, Kriegsgeschichten, die kaum jemanden gross bewegen.

Es gibt aber auch Namen, die einen erschaudern lassen. Was zeitlich näher liegt und wo Geschriebenes durch Bilder ergänzt wird, berührt es uns mehr. Vor allem aber die Erinnerungen an Kriegsereignisse, bei denen die Sinnlosigkeit und Brutalität des Kriegs nicht durch strategische Glanzleistungen der Feldherren oder die Baukünste der Kriegsingenieure übertüncht werden, sondern offen da liegen: Allen voran die Schreckensorte des Holocaust wie Auschwitz, Majdanek, Buchenwald, Dachau und die Orte von Massakern Wehrloser, wie Oradour, Fosse ardeatine, Srebrenica oder eben Vukovar.

Doch: Alle diese Namen haben ungeachtet der unterschiedlichen Assoziationen und Gefühle, die sie in uns auslösen, etwas gemeinsam: Sie stehen für Millionen und Abermillionen von Einzelschicksalen, für Tod, Schmerz und Erniedrigung, für Rücksichtslosigkeit und Kälte, für Angst, für Folter, Zynismus und Freude am Leid der anderen, nicht nur für die Vernichtung von Leben, sondern auch die Zerstörung unzähliger menschlicher Seelen.

Die Schrecken des Krieges zu zeigen, ihm die cachierende Maske der Heldenhaftigkeit, des Technokratischen, des Schlachtstrategischen vom Gesicht zu reissen, das ist die Aufgabe von uns allen. Es gibt keine romantischen Schlachten, keine schönen Kriege, es darf keine Faszination des Kriegs geben. Krieg ist Mord, ja noch schlimmer, Krieg reisst besonders tiefe Wunden, nicht nur ins Fleisch des einzelnen Menschen, sondern ins Innerste der menschlichen Gemeinschaft, der Gesellschaft. Krieg entwurzelt, er vernichtet Identität, er enttäuscht Hoffnungen und Lebenspläne der Menschen. Er raubt der Jugend ihre Zukunft, ihr Leben.

Auf alle möglichen Arten, durch Worte, durch Bilder, durch Musik, durch Töne oder wie auch immer zu zeigen, dass Krieg ausnahmslos schrecklich und mörderisch ist. Das müssen wir tun, wo es uns möglich ist.

Die Heute eröffnete Fotoausstellung tut dies auf eindrückliche Weise. Sie will nicht schockieren durch schreckliche Bilder der Verbrechen des Kriegs. Sie zeigt nicht, was vor etwas mehr als 10 Jahren in einer friedlichen, wunderschönen Stadt an der Donau an Undenkbarem geschah. Und dennoch spürt man es. Man empfindet, was Menschen Menschen in unserer nächsten Umgebung angetan haben und antun können. Was staatlich organisiert, geplant und durchgeführt – wie es Kriege eben sind – vor 10 Jahren passiert ist, mitten in Europa.

An sich kennen wir ja alle die viel schrecklicheren Bilder von den zahllosen kriegerischen Konflikten unserer Welt aus der Tagesschau oder der Presse. Wir sehen Gewalt, wir sehen den Tod, wir sehen verstümmelte Leichen. Doch wir wissen alle, wie schnell das Schreckliche ausgeblendet, verdrängt wird. Wie schnell die Namen des Schreckens der Gegenwart in der Geschichte versinken und vergessen werden. Wie leicht ob all des Leides die bewegten Bilder verschwimmen und der Krieg einfach irgendwo stattfindet, heute da, morgen dort, zum Glück nicht bei uns, sei es real oder im Spielfilm, nach der Spätausgabe im Abendprogramm.

Werner Rolli und Remigius Bütler haben in ihren Fotografien und Texten einen anderen Ansatz gewählt. Sie schockieren nicht durch gezeigte Brutalität gegen Menschen. Sie bewegen uns durch die Gesichter derer, die sich erinnern, sich erinnern wollen und müssen, und die dennoch leben wollen; sie bewegen durch Worte, die nicht den Horror des Mordens und Quälens wiedergeben, sondern uns die Folgen des Krieges zeigen, den Unfrieden, die Hoffnungslosigkeit, die Traurigkeit, die Trostlosigkeit des Alltags, den Hass, der nicht gewollt und doch ist. Und gleichwohl dazwischen immer wieder ein kleines Stück Hoffnung, dass das wieder kommt und wieder blüht, was wir alle uns doch so sehr wünschen: Frieden, Vertrauen, Liebe, Glauben an die Zukunft, an das Recht jedes Menschen, in seinem eigenen Leben glücklich sein zu dürfen.

Und die Bilder und Texte von Werner Rolli und Remigius Bütler schockieren, indem sie uns vor Augen führen, wie auch die Zerstörung von Sachen, von Häusern, von Strassenzügen, von Monumenten, die Zerstörung der Grabmäler auf dem Friedhof die Menschen im Innersten trifft, ihre Identität vernichtet, sie demütigt und ihnen nimmt, was ihnen ihre Geschichte gab: Wurzeln, Kultur, Heimat, den Stolz nicht einfach zu sein , sondern Bürgerin, Bürger eines Landes und einer Stadt zu sein, Bürgerin und Bürger von Vukovar.

Ob diese seelischen Wunden je verheilen werden, wissen wir nicht. Ob aus all dem Unrecht, das dieser Krieg – wie alle Kriege – brachte, Frieden und Gerechtigkeit entstehen können, wissen wir nicht. Nur eines wissen wir: Was in Vukovar geschah, darf nicht mehr geschehen. Nirgends auf der Welt.

Nie wieder Krieg ! Das war die Losung der Pazifisten nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges. Der Zweite kam nach zwanzig Jahren und Hunderte von Kriegen sind es seither gewesen, überall auf der Welt, auch bei uns in Europa. Und wieder stehen wir vor einem Krieg, etwas weiter weg – 6 statt 2 Flugstunden – von unserem Land entfernt.

Natürlich gibt es Unterschiede. Gewalt gegen Unrecht, sie muss sein. Auch das haben uns die Kriege auf dem Balkan gezeigt. Es gibt Gründe für militärische Gewalt. Doch sie sind seltener als vorgegeben wird. Zwar bedeutet Krieg nicht immer Vukovar. Den sauberen Krieg aber, den gibt es nicht. Krieg schlägt immer Wunden und sät immer Hass. Krieg ist immer schlimmer, als man es von aussen ahnt. Das mögen in den nächsten Wochen auch die transatlantischen Cäsaren bedenken.

 
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